Interview mit Yeming Gong (Emlyon Business School)

17 Jul 2023
Yeming Gong, Emlyon Business School (Frankreich)

„KI hat das Potenzial, die Effizienz zu verbessern und die Kosten im Lager zu senken“

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Yeming Gong, Professor für Managementwissenschaften und Leiter des Instituts für künstliche Intelligenz im Management, Emlyon Business School

Über den ExpertenYeming Gong ist Professor für Managementwissenschaften an der Emlyon Business School (Frankreich), wo er das Artificial Intelligence in Management Institute (AIM) und das Business Intelligence Center (BIC) leitet. Professor Gong, ein führender Forscher auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz, hat mehr als 100 wissenschaftliche Arbeiten in führenden Fachzeitschriften veröffentlicht. Seine Forschungsschwerpunkte sind intelligente Logistik, intelligente Fertigung, künstliche Intelligenz und Business Intelligence. Kürzlich wurde er von P-Rank als bester Professor für Managementwissenschaften Frankreichs und vom Material Handling Institute (MHI), dem führenden Branchenverband in den Vereinigten Staaten, als einer der zehn besten Lager- und Logistikspezialisten ausgezeichnet.

Mecalux interviewt Yeming Gong, Professor für Managementwissenschaften an der Emlyon Business School (Frankreich), um das Potenzial und die Anwendungen von künstlicher Intelligenz in der Lieferkette zu analysieren.

  • Welche Technologietrends werden in der Lagerhaltung zunehmend an Bedeutung gewinnen?

    Zu den aktuellen Trends, die bereits die Lagerhaltung revolutioniert haben und weiter zunehmen werden, gehören an erster Stelle die Robotik und Automatisierungstechnik. Mobile Roboter wie AMR und AGV, robotergestützte Lagerlösungen, automatisierte Intralogistiksysteme und Kommissionierroboter werden zunehmend in Logistikeinrichtungen auf der ganzen Welt eingesetzt.

    Ein weiterer zunehmender Trend ist das Internet der Dinge (Internet of Things, IoT), da es den Lagerbetrieb optimiert und die Produktivität steigert. IoT-Sensoren lassen sich bei der Überprüfung von Lagerbeständen, der Überwachung von Lagereinrichtungen und der Beschleunigung von Warenbewegungen innerhalb eines Lagers wirksam einsetzen. Unternehmen werden zunehmend KI-Technologien nutzen, um Logistikprozesse voranzutreiben. Diese Technologien greifen auf Daten zurück, die die Bestandsverwaltung durch Computer-Vision optimieren und die Bedarfsprognose, Lagerplatzzuweisung sowie den Warenversand verbessern.

  • Welche weiteren Technologien werden sich durchsetzen?

    Weitere Technologietrends sind Virtual-Reality- (VR) und Augmented-Reality-Systeme (AR). Bereits jetzt werden AR-Systeme zur Kommissionierung in Lagern eingesetzt. VR und AR werden zur Verbesserung von Kommissionier- und Sortieraufgaben eingesetzt und können durch Simulation realer Arbeitsszenarien zu Sicherheitszwecken sogar in internen Schulungsprogrammen verwendet werden.

    Auch das Cloud Computing wird sich in Logistikeinrichtungen durchsetzen. Diese Technologie leistet Echtzeit-Bestandsverwaltung, automatische Auftragsabwicklung und lässt sich in verschiedene Softwareprogramme der Lieferkette (MES, TMS usw.) einbinden. Damit besitzt sie das Potenzial, die Logistikleistung zu maximieren. Und schließlich haben Blockchain-Technologien meines Erachtens eine vielversprechende Zukunft. Zwar gehören sie noch nicht zu den Eckpfeilern der Logistik, spielen aber für die Sichtbarkeit und Transparenz in den Vertriebszentren eine wichtige Rolle.

     

    Auch das Cloud Computing wird sich in Logistikeinrichtungen durchsetzen

  • Weshalb sollten Unternehmen künstliche Intelligenz in ihren Lagern anwenden?

    KI-gestützte Systeme unterstützen Unternehmen dabei, ihre Lager effizienter, genauer und sicherer zu verwalten, was wiederum die Zufriedenheit der Endkunden verbessert. Künstliche Intelligenz wird of nur mit Hardware - Robter, Geräte und selbst Anlagen - in Verbindung gebracht. Jedoch ist KI-basierte Software ebenso unverzichtbar, um logistische Prozesse kosteneffizient zu gestalten. KI-Systeme, die auf Hard- und Software angewendet werden, können sich wiederholende und zeitaufwändige Aufgaben wie die Rückverfolgbarkeit, das Kommissionieren, Verpacken, Lagern, Sortieren und den Warenversand optimieren. Diese Automatisierung spart nicht nur Zeit, sie minimiert auch Fehlerrisiken und erhöht die Präzision aller Lagerabläufe.

    Die KI wird heute sehr häufig mit der SaaS (Software as a Service) in Verbindung gebracht: KI-Cloud-Dienste können dazu beitragen, das Unternehmen nachhaltigere Anlagen bauen und einen Beitrag zur gesellschaftlichen Verantwortung sowie zum Umweltschutz leisten. KI kann Lagerleiter auch dabei unterstützen, Sicherheitsrisiken zu erkennen, z. B. Hindernisse im Durchgangsbereich von Flurfördermitteln, und gleichzeitig Warnungen an die Bediener zu senden, damit diese entsprechende Maßnahmen ergreifen.

    Ein weiterer Grund für den Einsatz von KI in Unternehmen, ist ihre Fähigkeit zur Integration aller Vorgänge in der Lieferkette: KI-gestützte Systeme liefern Echtzeitinformationen über den Zustand der Anlagen und optimieren die Supply Chain, was zu einer weiteren Kostenreduzierung beiträgt.

  • Welche sind die vielversprechendsten KI-Anwendungen zur Verbesserung der Logistikprozesse im Lager?

    KI hat ein großes Potenzial, die Effizienz zu verbessern, Kosten zu senken und Fehler im Lagerbetrieb zu minimieren, was zu einer optimalen Kundenzufriedenheit und einem höheren wirtschaftlichen Nutzen führt. Die Anwendungen mit den besten Aussichten sind meiner Meinung nach autonome mobile Roboter (AMR), die zur Optimierung sich wiederholender Aufgaben wie Warenumschlag, interner Warentransport und Kommissionierung eingesetzt werden können. Weitere Anwendungen mit Wachstumsaussichten sind autonome Fahrzeuge, und damit meine ich nicht Fahrzeuge wie Tesla, sondern fahrerlose Flurfördermittel. Diese Handhabungsgeräte haben sich für Logistikeinrichtungen als besonders nützlich erwiesen und in den letzten Jahren einen großen Durchbruch erlebt.

    Die dritte vielversprechende Anwendung ist die Drone. Dronen werden bereits zur Bestandsverwaltung eingesetzt und können sogar durch die Lagerhalle fliegen, um die für die Kommissionierung benötigten Artikel zu entnehmen. Noch ist der Einsatz von Dronen experimentell, wird sich in Zukunft aber voraussichtlich ausweiten.

    Cloud Computing wird sich aufgrund seines Potenzials zur Verbesserung der Abläufe zunehmend durchsetzen
  • Welche KI-Anwendungen könnten sich noch durchsetzen?

    Die populärsten KI-Anwendungen sind Chatbots, die mit der kürzlichen Lancierung von ChatGPT an Dynamik gewonnen haben. In Zukunft werden diese intelligenten Chatbots wahrscheinlich zunehmend Callcenter-Funktionen übernehmen, zumal der Kundenservice in der Logistik und der Lagerhaltung eine wichtige Dienstleistung darstellt. In der Lieferkette können interaktive Bots auch die Kommunikation verbessern und Prozesse, die die Beteiligung mehrerer Akteure erfordern, optimieren. Chatbots können zum Beispiel dafür eingesetzt werden, das Lager mit anderen Abteilungen wie dem Versand zu verbinden.

    KI-basierte vorausschauende Wartung ist eine weitere vielversprechende Anwendung in Lagern. Anhand der Analyse von Sensordaten und dem Einsatz von Algorithmen des Machine Learning kann künstliche Intelligenz Wartungsarbeiten perfektionieren. Mit KI-basierten Vorhersagen sind Logistikmanager in der Lage, Fehlfunktionen von Flurfördermitteln im Lager zu erkennen, bevor sie auftreten, und eine proaktive Wartung durchzuführen, um Maschinenausfallzeiten sowie Kosten zu reduzieren.

    Auch die Einbindung von KI-Technologien in den Kommissionierprozess ist auf dem Vormarsch. Augmented Reality-basierte Kommissionierung wird bereits in vielen Ländern eingesetzt. Wir beobachten auch eine zunehmende Nutzung von cobots: kooperierende Roboter, die den Bedienern helfen, die Effizienz der Kommissionierung zu steigern und ihre Arbeitslast zu verringern.

  • Wie können Lagermitarbeiter von der KI profitieren?

    Das ist eine gute Frage, denn Robotik und KI werden meist nur mit Produktivität und Effizienz in Verbindung gebracht, doch sie gehen weit darüber hinaus. KI bieten Lagermitarbeitern zahlreiche Vorteile, darunter bessere Arbeitsbedingungen und erhöhte Sicherheit. So können Roboter beispielsweise bei sich wiederholenden Aufgaben unterstützen, sodass die Bediener sich auf die Prozesse konzentrieren, bei denen sie einen Mehrwert schaffen können. Auch Logistikmanager können von der KI profitieren. Mögliche Gefahren werden identifiziert und proaktive Maßnahmen zum Schutz der Mitarbeiter zeitnah veranlasst, um die Sicherheitsstandards zu erhöhen.

    Mit KI-Geräten im Lager können Unternehmen arbeitsbedingte Gefahren vorbeugen, die durch körperlich anstrengende Aufgaben wie das Kommissionieren, Sortieren und Verpacken entstehen. KI-gestützte Systeme wie Cobots arbeiten mit den Lagermitarbeitern zusammen, um Verletzungen vorzubeugen, geistige Ermüdung im Zusammenhang mit sich wiederholenden Aufgaben zu verringern und die Arbeitsbedingungen im Lager zu verbessern. Künstliche Intelligenz ermöglicht auch die Weiterentwicklung der menschlichen Intelligenz, indem sie Informationen und Daten in Echtzeit liefert, auf deren Grundlage fundierte Entscheidungen getroffen werden können.

  • Viele Unternehmen erstellen einen digitalen Zwilling ihrer Logistikanlagen, um mögliche Szenarien zu simulieren
    "Viele Unternehmen erstellen einen digitalen Zwilling ihrer Logistikanlagen, um mögliche Szenarien zu simulieren"

    Wie kann Robotertechnik zur Verbesserung der Kommissionierung beitragen?

    Der Einsatz von Robotertechnik in der Kommissionierung ist sicherlich der Trend, der in den letzten zehn Jahren von größter Relevanz war. Die Roboter im Lager sind in der Lage, wesentlich schneller als menschliche Arbeitskräfte zu arbeiten. Sie können Produkte mit höherer Präzision herausnehmen und absetzen, was zu einer signifikativen Beschleunigung und Effizienzsteigerung führt. Robotersysteme tragen auch dazu bei, Fehler zu vermeiden und Sicherheitsrisiken bei der Kommissionierung zu limitieren. Dies ist besonders in großen Industrieanlagen von Vorteil, in denen die Mitarbeiter schwere Lasten und Geräte handhaben müssen.

     

    Roboter können 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche kommissionieren. Noch vor einigen Jahren war Arbeit ohne Unterbrechung nicht möglich, da sie durch das Arbeitsrecht geregelt war. Roboter arbeiten jedoch im 24-Stunden-Takt, was bspw. für den Einzelhandel, der eine Kommissionierung am Wochenende erfordert, oder für die Chemieindustrie, die Produktionsprozesse ohne Unterbrechung durchführen muss, eine wichtige Voraussetzung ist.

  • Inwiefern kann eine Simulation den Lagerbedarf antizipieren?

    Die Simulation ist ein leistungsfähiges Werkzeug, aber auch digital twins sind auf dem Vormarsch. Viele Unternehmen erstellen einen digitalen Zwilling ihrer Logistikanlagen, um mögliche Szenarien zu simulieren und zu testen, wie sich die Einführung verschiedener Lösungen auf die Lagerleistung auswirken würde. In der Vergangenheit war es schwierig, logistische Prozesse genau zu planen. Heute können Unternehmen mit Hilfe von Simulationstools und digital twins die benötigte Lagerkapazität vorhersagen und die Parameter von Robotern, den Personalbestand und die Lagerausstattung im Voraus modifizieren.

    Die Simulation trägt zur Optimierung der Unternehmenslogistik bei. Der heutige Lagerbetrieb kann sehr komplex sein. Daher ist es fundamental, Prozesse, wie die Kommissionierung, das Sortieren von Produkten oder die Lagerung zu perfektionieren. Mit digital twins können Unternehmen Engpässe identifizieren sowie überprüfen, welche Lagerabläufe Mängel aufweisen und einer Verbesserung bedürfen.

    Auch beim Risikomanagement kann die Simulation zum Einsatz kommen. Die heutigen Systeme der künstlichen Intelligenz erstellen genaue Prognosen, anhand derer die Lagerleiter potenzielle Störungen antizipieren können. Hat zum Beispiel ein Roboter ein Problem, fällt ein Flurfördermittel aus oder fehlen Arbeitskräfte, können mit den digitalen Zwillingen Simulationen durchgeführt werden, um solche Unwägbarkeiten effektiv zu bewältigen. Das Risikomanagement ist eine relativ neue, aber für die aktuelle Simulationstechnologie sehr vielversprechende Funktion.

  • Welches Potenzial haben KI-Chatbots in der Logistik?

    KI-basierte Chatbots haben die Fähigkeit, Logistikprozesse zu optimieren, Kosten zu reduzieren und den Kundenservice zu verbessern. In der Logistikbranche liefern interaktive Bots eine schnellere Beantwortung von Kundenanfragen sowie die Bereitstellung von Informationen und die aktuelle Rückverfolgung von Sendungen und Auftragslieferungen. Dank der Chatbots ist es heute möglich, den genauen Standort eines Pakets zu erfahren, das von Paris nach Shanghai oder New York geschickt wird.

    Chatbots werden in der Logistik auch für die Kommissionierung - eine der wichtigsten Lagerabläufe - eingesetzt. Es spricht viel dafür, dass die neue KI-Chatbot-Generation fähig ist, Kommissionierungsaufgaben zu automatisieren, indem sie beispielsweise Bestelldaten prüft und Versandetiketten erstellt. Chatbots können die Fehlerquote senken und die Bearbeitungszeit verkürzen. KI-Bots im Lager können so integriert werden, dass sie die Buchhaltungs- mit der Finanzabteilung verbinden, um die Lieferzeiten zu verkürzen und die Kundenzufriedenheit zu steigern.

    Auch die Einbindung in die Lagerverwaltung ist mit den heutigen KI-Chatbots möglich. So können Prozesse rückverfolgt und Vorgänge wie die Kommissionierung und Wartung der Lagerausrüstung unterstützt werden. Sie sind sogar in der Lage, Echtzeit-Updates zu den Lagerbeständen zu liefern und die Präzision zu erhöhen. Insgesamt haben KI-Chatbots ein großes Potenzial, die Kommunikation in der gesamten Lieferkette zu optimieren und sowohl den Kundenservice als auch die Lieferantenbeziehungen zu stärken.

    Mit der nächsten Generation der KI-Technologien werden sich die Lieferketten grundlegend verändern
  • Inwiefern könnte ChatGPT zur Transformation der Lieferkette beitragen?

    ChatGPT ist ein kleiner Schritt auf dem Weg zu einer allgemeinen künstlichen Intelligenz: Die Entwicklung beider Technologien würde sich entscheidend auf die Gesellschaft und die Wirtschaft auswirken. Der Einfluss von ChatGPT auf die heutige Lieferkette ist noch begrenzt, jedoch könnten die Lagerhaltung und Logistik grundlegend verändert werden. ChatGPT kann zum Beispiel einen sehr präzisen 24-Stunden-Kundendienst leisten. Zudem lassen sich damit auch wertvolle Informationen zu Kundenpräferenzen und Nachfragemustern gewinnen. Dieser fortschrittliche Chatbot könnte in der gesamten Lieferkette eingesetzt werden, um verschiedene Aufgaben, darunter die Auftragskommissionierung und die Logistikplanung, zu automatisieren. ChatGPT ist eine sehr nützliche Technologie, deren Einfluss auf die Supply Chain jedoch noch abzuwarten bleibt.

  • Wie stellen Sie sich die Zukunft der Lieferketten mit der nächsten KI-Generation vor?

    Die Entwicklung der KI ist noch längst nicht am Ende angekommen. Wir stehen erst am Anfang der allgemeinen künstliche Intelligenz. Mit der nächsten Generation der KI-Technologien werden sich die Lieferketten grundlegend verändern. Mit zunehmender Intelligenz der KI-Systeme werden Roboter in Zukunft voraussichtlich den Großteil besonders repetitiver und anspruchsvoller Aufgaben übernehmen. Dies wiederum senkt die Kosten, erhöht die Effizienz und gibt den Mitarbeitern die Möglichkeit, sich auf Arbeiten mit höherem Mehrwert zu konzentrieren. Auch wird es Änderungen in der Lieferkettenstruktur geben. Es ist möglich, dass in Zukunft ein KI-basiertes physisches Internet Teil unserer Realität sein wird. Damit wird die Gesamtstruktur der Logistik einen vollständigen Wandel vollziehen.

    Die nächste Generation der künstlichen Intelligenz wird auch im autonomen Transportwesen und in der Lagerrobotik erhebliche Fortschritte erzielen. Gleichwohl wird die Lieferkette in den nächsten Jahren ausnahmslos automatisiert sein. Langfristig wird die allgemeine KI zu einer Verbesserung des Kundendienstes beitragen. Der Aufbau einer kundenorientierten Wertschöpfungskette mithilfe von KI-Chatbots verkürzt die Reaktionszeit, verbessert die Transparenz der Abläufe und erhöht die Kundenzufriedenheit. Schließlich bin ich der Meinung, dass Blockchain-Technologien und KI ein integrativer Bestandteil zukünftiger Lieferketten sein werden, um die Finanzflüsse der Supply Chain zu steuern.

    Die Lieferketten der Zukunft werden auch mittelfristig einen tiefgreifenden Wandel erfahren. Wir stehen an der Schwelle zu einer neuen technologischen Ära der Logistik.