Disruptive Logistik

12 Apr 2023

VON TERESA DE LA CRUZ
Projektmanagerin des Zaragoza Logistics Center

In den letzten dreißig Jahren erfuhr die Logistik eine beispiellose Transformation. Sie spielte zunächst eine rein operative, dem Vertrieb und der Produktion untergeordnete Rolle. Inzwischen wird sie strategisch eingesetzt und kann als unabhängiger Faktor betrachtet werden. Manche Unternehmen setzen zur Überwachung von Logistikvorgängen sogar einen Supply Chain Manager ein. Die Digitalisierung war im Verlauf der Jahre der Schlüssel zu dieser Transformation - ein Prozess, der sich von der dritten bis zur vierten industrielle Revolution weiterentwickelt hat.

Industrie 4.0: die vier industriellen Revolutionen
Industrie 4.0: die vier industriellen Revolutionen.
Quelle: Christoph Roser en AllAboutLean.com, unter freier Lizenz CC-BY-SA 4.0.

Die disruptive Logistik, auch als Industrie 4.0 bekannt, hat die digitale Transformation zur gängigen Praxis gemacht und viele Industriezweige revolutioniert. Durch den Einsatz disruptiver Technologien haben die Informations- und Kommunikationstechnologien sowie der Bereich der Konnektivität, Analytik und Datenverarbeitung einen großen Sprung nach vorn gemacht. Beispiele für diese Entwicklungen sind die nächste Generation der Kommunikation und der Netze (5G), das industrielle Internet der Dinge (IIoT), künstliche Intelligenz (KI), maschinelles Lernen, prädiktive Analytik und Cloud Computing.

Die Bedeutung der Logistik und der Lieferkette in der Industrie 4.0 zeigt sich anhand des Konzepts des physischen Internets (PI als Akronym auf Englisch), einem globalen Güterverkehrssystem, das wie das Internet funktionieren würde. Dieses Paradigma wurde entwickelt, um ein globales Logistiksystem zu schaffen, dessen Ziel es ist, Produkte mit mehr Nachhaltigkeit und Effizienz zu bewegen, zu handhaben, zu lagern und zu transportieren. Um dies zu erreichen, erfordert das physische Internet in physischer, digitaler und operativer Hinsicht ein höheres Maß an Interkonnektivität und Interoperabilität. Nach dem Vorbild des digitalen Internets würde das physische Internet durch ein zusammenhängendes Netz von intermodalen Terminals, kollaborativen Protokollen und intelligenten, modularen und standardisierten Ladeeinheiten realisiert werden.

Aktuell stehen Lieferketten vor noch nie dagewesenen Herausforderungen. Setzen Unternehmen in dieser Situation auf das physische Internet, könnten sie den Umsatz steigern, die Kosten senken, den Kundenservice verbessern, Entscheidungen in Echtzeit treffen und damit ihr Management mit mehr Effizienz, Resilienz und Konsequenz gestalten. Die neuesten digitalen Trends haben einen unbestreitbaren Einfluss auf die Logistik, da sie die Abhängigkeit von manuellen Prozessen und die damit verbundene Fehlertoleranz verringert haben.

Digitale Beschleunigung

Insbesondere seit dem rasanten Anstieg zwischen 2018 und 2020 waren die neuen Technologien für jedermann zugänglich. Laut einem Bericht des Massachusetts Institute of Technology (MIT) gibt es ein schnell wachsendes Interesse an Technologien wie KI (künstliche Intelligenz): 62 % der an der Studie teilnehmenden Unternehmen gaben an, dass sie ihre Investitionen in KI-Projekte im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr erhöht haben. Als Folge der Pandemie konzentrierten sich die Unternehmen auf den digitalen Wandel, was viele dazu zwang, sich neu zu erfinden und ihren Übergang zur Digitalisierung voranzutreiben.

Eine andere Studie des Capgemini Research Institute belegt, dass 68 % der Unternehmen der Auffassung sind, COVID-19 habe bereits jetzt die digitale Transformation beschleunigt und wird dies auch in Zukunft tun. Alle Branchen haben bei ihrem Übergang zur Digitalisierung Fortschritte gemacht, auch wenn die Technologie nicht in gleichem Tempo übernommen wurde. Im Jahr 2020 übertraf der Einzelhandel alle anderen Branchen: 73 % der Unternehmen gaben an, über die für die Transformation erforderlichen digitalen Fähigkeiten zu verfügen, in 2018 waren es nur 37 %. Einzelhändler, die die steigende Online-Nachfrage der Verbraucher erkannten und eine proaktive E-Commerce-Strategie verfolgten, standen an der Spitze des Digitalisierungsbooms.

Unternehmen nach Branchen, die glauben, dass sie über die notwendigen digitalen Kapazitäten verfügen: 2018 vs. 2020
Unternehmen nach Branchen, die der Auffassung sind, über die notwendigen digitalen Kapazitäten und Fähigkeiten zu verfügen: 2018 vs. 2020. Quelle: Digital Mastery 2020: Welche Fortschritte haben Unternehmen in den letzten zwei Jahren bei ihrer digitalen Transformation gemacht (Capgemini Research Institute).

Implementierung von Technologien in der Lieferkette

Die Implementierung von Technologien, die die Digitalisierung der Lieferkette vorantreiben, sowie von Technologien, die die Entscheidungsfindung verbessern, wird sich in naher Zukunft weiter durchsetzen. So prognostiziert das Beratungsunternehmen Gartner, dass bis zum Jahr 2026 75 % der Großunternehmen intelligente Intralogistikroboter in ihren Lagerbetrieb integriert haben werden. Die Roboter werden zur Automatisierung bestimmter Prozesse eingesetzt und sollen die menschliche Arbeitskraft ergänzen. Im Vergleich zu konventionelleren Automatisierungssystemen - Behälterfördersysteme oder fahrerlose Transportsysteme - ist der Einsatz von Robotern schneller und kostengünstiger.

Herkömmliche Lieferketten funktionieren auf der Basis historischer Daten, während Lieferketten mit integrierten digitalen Technologien in Echtzeit operieren. Jahrzehntelang haben sich Unternehmen darauf konzentriert, ihre Lieferketten zu modernisieren, indem sie große Summen in ERP-Systeme (Enterprise Resource Planning) investierten, was zur Effizienzsteigerung und Kostensenkung beitragen sollte. Diese Systeme sollten die Unternehmen darauf vorbereiten bzw. den Grundstein dafür legen, die Folgen von Unterbrechungen in der Lieferkette zu bewältigen und abzuschwächen. ERP-Systeme könnten jedoch die Probleme, die sich aus den Unterbrechungen ergeben, verschärft haben, da sie für statische Unternehmensmodelle gedacht sind. Es gibt wirksamere Optionen für die Bewältigung von Störungen in der Lieferkette. Dazu gehören neue Technologieplattformen, die es den Nutzern ermöglichen, ihre Lieferketten durch Anwendungen anzupassen, die KI oder maschinelles Lernen nutzen und Daten von IoT-Geräten integrieren.

Laut Gartner werden bis zum Jahr 2026 75 % der großen Unternehmen eine Variante der intelligenten Roboter in ihren Lagern eingesetzt haben

Digitale Reife

Die digitale Transformation kann als Gesamtheit systemischer Prozesse bezeichnet werden, die für die Anwendung digitaler Technologien erforderlich sind. Die Digitalisierung nutzt Daten, Informationen und Intelligenz mit dem Ziel der Leistungssteigerung von Unternehmen und um deren Fähigkeit zu verbessern, sich schnell an disruptive Veränderungen im Umfeld anzupassen.

Der Begriff digitale Reife kann wie folgt definiert werden: Zum einen beschreibt er die digitalen Kapazitäten von Unternehmen, mit denen technologische Initiativen verwirklicht werden können. Zum anderen geht es um die Managementfähigkeiten wie Führung, Unternehmenskultur, Veränderungsmanagement und Governance (Steuerung), die die digitale Transformation vorantreiben. Unternehmen mit ausgeprägten digitalen Fähigkeiten, denen es an Kompetenzen im Transformationsmanagement mangelt, werden als "Fashionists" bezeichnet, während Unternehmen mit Kompetenzen im Transformationsmanagement, jedoch mit geringen digitalen Kenntnissen als "Konservative" bezeichnet werden.

Vier Arten digitaler Reife
Quelle: Cichosz, Marzenna, Carl Marcus Wallenburg und A. Michael Knemeyer. 2020. Digital Transformation at Logistics Service Providers: Barriers, Success Factors and Leading Practices. The International Journal of Logistics Management 31 (2).

Die Implementierung technologischer Innovationen stellt Logistikunternehmen vor zahlreiche Herausforderungen. Die Herausforderungen reichen von der Komplexität des Logistiksystems, deren zugrundeliegende Prozesse bis hin zum Mangel an spezialisierten Ressourcen, der Fähigkeit, Technologien zu implementieren, dem Widerstand gegen Veränderungen (sowohl auf institutioneller als auch auf individueller Ebene) und zu Sicherheitslücken bzw. Datenschutzverletzungen.

Laut eines DHL-Berichts glaubt die überwiegende Mehrheit der Logistikmitarbeiter an den Nutzen und die Vorteile der Technologie und befürwortet deren verstärkte Nutzung zur Unterstützung ihrer Aufgaben. Trotz dieser Einstellung sieht die Mehrheit der Lageristen und Büroangestellten den zukünftigen Fortschritten in der Automatisierung und KI mit Unbehagen entgegen. Die Logistikmanager sind jedoch der Ansicht, dass sich der Wandel allmählich vollziehen wird. So geht man davon aus, dass die Technologie in den nächsten 30 Jahren nicht mehr als konkurrierender Faktor betrachtet, sondern verstärkt in den Arbeitsalltag integriert wird. Die Digitalisierung bietet ein breites Spektrum an Beschäftigungsmöglichkeiten für hoch qualifizierte Arbeitnehmer sowie für diejenigen, die sich an die neuen, vom Markt geforderten Fähigkeiten anpassen können. Arbeitnehmer mit geringeren Qualifikationen müssen in den Digitalisierungsprozess integriert werden und ihre Qualifikationen verbessern.

Aber auch die Logistikmanager müssen sich den Herausforderungen, die die Implementierung von Technologien mit sich bringt, stellen. Ihre Aufgabe ist es, sich mit dem Fachkräftemangel auseinanderzusetzen und ihre Mitarbeiter bei der Anpassung an neue Produktions- und Dienstleistungsprozesse zu unterstützen.

Erfolgsfaktoren für die digitale Transformation

Führungsfähigkeiten, eine Unternehmenskultur, die die Transformation in den Mittelpunkt stellt, das Engagement von Mitarbeitern und Geschäftspartnern sowie IT- und Betriebsmitarbeiter, die als Team eine gemeinsame Vision und einheitliche Ziele verfolgen - all diese Faktoren sind für den Erfolg der Digitalisierung ausschlaggebend. Gute Führung ist ein entscheidender Aspekt, der die anderen Erfolgsfaktoren noch verstärken kann. Im konkreten Kontext der Transformation nehmen Führungskräfte quasi die Rolle eines Dirigenten ein, der Menschen dazu inspiriert und motiviert, sich aktiv am digitalen Transformationsprozess zu beteiligen.

Die wichtigsten Erfolgsfaktoren der Digitalisierung
Quelle: Cichosz, Marzenna, Carl Marcus Wallenburg und A. Michael Knemeyer. 2020. Digital Transformation at Logistics Service Providers: Barriers, Success Factors and Leading Practices. The International Journal of Logistics Management 31 (2).

Betrachtet man die digitale Transformation in einem breiteren Kontext, so stellt man fest, dass sie durch bahnbrechende, klar definierte und messbare Initiativen gefördert werden kann, die als Antrieb für weitere Projekte ähnlicher Art dienen. Die Umsetzung dieser Initiativen fordert von Unternehmen potenziell gewinnbringende und mit vertretbarem Risiko verbundene Projekte zu fördern. Gelingt dies, ist ihnen die Unterstützung der unterschiedlichen Interessengruppen sicher. Das gilt insbesondere für Industrieunternehmen, die an EU-finanzierten Forschungs- und Innovationsprojekten teilnehmen. Das Projekt PLANET beispielsweise untersucht neue Wege zur Koordinierung komplexer Lieferketten durch multimodale Korridore unter Einbeziehung öffentlicher und privater Akteure. Aus dem Projekt sind drei Living Labs (Testumgebungen, in denen Nutzer Innovationen mitgestalten können) hervorgegangen, die Technologien und Konzepte des physischen Internets umsetzen und verschiedene TEN-V-Korridore (Transeuropäische Verkehrsnetze) über See- und Bahnstrecken mit China verbinden. PLANET hat sich unter anderem zum Ziel gesetzt, die Planung, Streckenführung sowie die Prognosefähigkeit zu verbessern, um Betriebskosten, CO2-Emissionen und Unterbrechungen der Lieferkette zu verringern. Im Rahmen des europäischen Projekts wird auch untersucht, wie kollaborative Entscheidungen schneller getroffen werden können und wie die End-to-End-Lieferkettentransparenz verbessert werden kann.

Digitalisierung als Quelle für Wettbewerbsvorteile

Die Unternehmen greifen neue technologische Trends auf, um ihre Prozesse zu optimieren und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Die führenden Industrieunternehmen haben erkannt, dass neue und etablierte Technologien zu einer wichtigen Quelle für Wettbewerbsvorteile geworden sind. Tatsächlich schneiden die digital fortschrittlichsten Unternehmen in finanzieller Hinsicht deutlich besser ab als ihre Konkurrenten. Unternehmen, die ihre Altsysteme modernisieren und neue technologische Ansätze in ihre Prozesse einbeziehen, sind besser auf künftige Entwicklungen vorbereitet.

In einem sich wandelnden industriellen Umfeld sind auch Logistikanalysen für die Bewältigung neuer Herausforderungen von entscheidender Bedeutung. Eine erfolgreiche digitale Transformation lässt sich nur dann erreichen, wenn die Technologie nicht als Zweck, sondern als Mittel betrachtet wird. Des Weiteren basiert sie auf einer Strategie, die sich an den digitalen Entwicklungsstand des jeweiligen Unternehmens anpasst.

 


 

Dr. Teresa de la Cruz ist Projektmanagerin im Forschungsbüro des Zaragoza Logistics Center, wo sie für das Projektmanagement und die Forschungsgebiete urbane Mobilität, Nachhaltigkeit der Lieferketten und Transportsysteme zuständig ist.

 


 

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