Bessere Instrumente für Mensch und Maschine in einer technologiegesteuerten Welt

12 Jun 2023

Yossi Sheffi zeigt, wie Robotik und KI Arbeitsplätze schaffen

VON YOSSI SHEFFI
Leiter des MIT Center for Transportation and Logistics

Die sozioökonomischen Veränderungen der frühen 2020er Jahre haben die Bedeutung von Lieferketten in der globalen Wirtschaft sowie die wachsende Rolle digitaler Technologien - wie künstliche Intelligenz (KI) und Automatisierung - in der Gegenwart und Zukunft deutlich gemacht. In dieser Adaption seines neuesten Buches, The magic conveyor belt: Supply chains, A.I., and the future of work, zeigt der MIT-Professor Yossi Sheffi auf, wie Automatisierung, Robotik und künstliche Intelligenz Arbeitsplätze verändern und neue entstehen lassen. Zudem geht er auf die Instrumente ein, die zur Produktionssteigerung beitragen und beim zunehmend komplexen Lieferkettenmanagement einen Mehrwert schaffen.

Mit der Etablierung neuer Automatisierungs- und KI-Technologien bedarf es auch neuer Instrumente zur Produktivitätssteigerung, die zudem die Zusammenarbeit zwischen Mitarbeitern, Führungskräften und Maschinen ermöglichen sollen. Nach genauer Betrachtung der Rolle des Menschen in Arbeitsabläufen werden in den folgenden Abschnitten vier Instrumente beschrieben, die Experten dabei unterstützen, in eng vernetzten globalen Lieferketten Vorgehensweisen zu erkennen, zu analysieren und zu empfehlen.

Lernzyklen: Zusammenarbeit zwischen Mensch und KI

Welche Instrumente der Mensch für die Zusammenarbeit mit Maschinen benötigt, wird von seiner Rolle in der zukünftigen Wirtschaft und davon abhängen, wie er die Zusammenarbeit mit KI und Automatisierung verbessern kann. In einem Artikel in der Harvard Business Review beschreiben zwei Führungskräfte von Accenture fünf Prinzipien, deren Anwendung zur optimierten Zusammenarbeit zwischen Mensch und KI beitragen: Unternehmen können Geschäftsprozesse neu erfinden, Experimente in Teams fördern, die KI-Strategie aktiv vorantreiben, Daten verantwortungsvoll sammeln und die Arbeit neu gestalten, um KI einzubinden und die Kompetenzen ihrer Fachkräfte weiterzuentwickeln.

Um neue Geschäftsprozesse einzuführen, die Arbeit neu zu gestalten, um KI einzubinden und fachliche Kompetenzen zu fördern, bedarf es zunächst einer Analyse der Arbeitsabläufe im Unternehmen. Verschiedene Experten haben theoretische Modelle mit Fokus auf Mensch und Unternehmen entwickelt, um Prozesse effektiver zu gestalten. Viele dieser Szenarien beinhalten eine Art Abfolge und Iteration - oder "Zyklus" - von Schritten, die von der Erfassung von Situationsdaten über die Entwicklung von Plänen und die Durchführung von Maßnahmen bis zur Zusammenstellung von Informationen über die Ergebnisse reichen.

The Magic Conveyor Belt (Yossi Sheffi)

Im Zusammenhang mit KI und Automatisierung stellt sich eine wichtige Frage: Welche Funktionen übernehmen Mensch und Maschine in diesen Zyklen? Ein Beispiel: Eine Person kann vollständig in einen Zyklus involviert sein, wenn für eine Aufgabe ein oder mehrere wesentliche Schritte ausgeführt werden müssen. Das andere Extrem wäre eine Maschine, die in der Lage ist, automatisch die meisten Schritte der Routineaufgaben durchzuführen und nur in außergewöhnlichen, anomalen oder komplexen Fällen ein menschliches Eingreifen benötigt. Ein solches Verfahren könnte für die meisten Tätigkeiten rund um die Uhr laufen und während der Bürozeiten nur ein Bruchteil der Fälle abdecken.

In noch fortgeschritteneren Beispielen der Automatisierung könnte die Person einfach die Lernzyklen des Systems über ein Bedienpanel beobachten und den Prozess untersuchen und eingreifen, wenn ein Problem auftaucht. Schließlich kann ein menschliches Eingreifen nur auf höherer Ebene erforderlich sein. Dies ist bspw. der Fall bei der Entwicklung vollständig autonomer Systeme, die kontinuierlich operieren und nur punktuelle Interventionen während des Betriebs erfordern.

Die Blackbox der KI beleuchten

Viele maschinelle Lernsysteme verhalten sich wie undurchschaubare Blackboxen; sie geben Antworten, ohne zu erklären, warum die Software diese Antwort gewählt hat. Die fehlende Argumentation der KI ist sowohl für den Einsatz als auch für die zuverlässige Verwendung von Deep-Learning-Systemen ein Hindernis, da Erläuterungen in jedem Entscheidungsprozess eine dreifache Schlüsselrolle spielen. Erstens bedarf es Gründe, um die Beteiligten davon zu überzeugen, dass die KI-Antwort korrekt ist. Zweitens sind Argumente zur Gegenprüfung oder Validierung der KI-Antwort erforderlich. Verwendet KI eine Logik oder fragwürdige Daten? Drittens sind Erläuterungen nützlich, da nicht nur eine Antwort, sondern auch eine Begründung gegeben wird und die Beteiligten somit von der KI lernen können.

Um dieses KI-Blackbox-Problem zu lösen, arbeiten Forscher und Ingenieure an einer neuen Klasse von maschinellen Lernsystemen, die als erklärbare künstliche Intelligenz (XAI) bekannt sind. Erklärbare KI generiert Antworten, aber auch einige Erläuterungen. Die für eine erklärbare künstliche Intelligenz erforderliche Forschung beinhaltet Änderungen am maschinellen Lernmodell selbst sowie psychologische Analysen, um festzustellen, welche Art von Erklärung Menschen benötigen oder wünschen würden, um das System optimal zu nutzen.

Digital Twins für das Management und die Simulation

Mit zunehmender Komplexität der Unternehmenswelt, Lieferketten und Technologie benötigt der Mensch Instrumente zum Verständnis bestehender Systeme und um sicher mit vorgeschlagenen Entscheidungen, Taktiken und Strategien zu experimentieren. Mit der Digital Twins-Technologie lässt sich all dies umsetzen. Ein Digital Twin ist ein detailgetreues und realistisches digitales Abbild eines physischen Systems, sei es ein Gerät, ein Transportmittel, eine Fabrik, ein Lager, ein Unternehmen oder sogar eine ganze Lieferkette. Ein digitaler Zwilling ist jedoch mehr als eine einfache Computerdarstellung einer Ressource, da die Ressource mit ihrer virtuellen Darstellung verbunden ist, um ständig entsprechend ihrer tatsächlichen Bedingungen aktualisiert zu werden.

Die Digital Twin-Technologie ermöglicht auch die Verwendung einer Art von KI, die als Reinforcement Learning (verstärkendes Lernen) bekannt ist und durch Trial and Error lernt

Digital Twins können zur Visualisierung und Überwachung der Leistungsfähigkeit des physischen Systems verwendet werden. Zudem werden sie eingesetzt, um Arbeitnehmer in grundlegenden Arbeitsabläufen zu schulen oder Probleme zu lösen. Unternehmen können mehrere Kopien eines digitalen Zwillings erstellen, um die Auswirkungen von Schwankungen, verschiedener Szenarien, Eventualitäten oder vorgeschlagener Änderungen am Objekt oder bei dessen Nutzung zu simulieren und zu vergleichen.

Die Digital Twin-Technologie ermöglicht auch die Verwendung einer Art von KI, die als „Reinforcement Learning“ (verstärkendes Lernen) bekannt ist. Diese KI-Art lernt durch Versuch und Irrtum, das bedeutet, sie probiert verschiedene Handlungen aus und wird in Abhängigkeit der erzielten Ergebnisse „bestärkt“ oder „bestraft“. Kopien eines digitalen Zwillings können eine realistisch simulierte Umgebung für diese Systeme des „Reinforcement Learning“ bieten.

Bessere Schnittstellen und Instrumente zur Zusammenarbeit

Mensch-Maschine-Schnittstellen sind ein wesentliches Element der Mensch-Roboter-Kooperation. Fortschritte bei sehr schnellen, stromsparenden und kostengünstigen mobilen Computern, Displays und Kameras ermöglichen neue Computerschnittstellen, die Augmented-Reality- (AR) und Virtual-Reality-Szenarien (VR) schaffen.

Augmented Reality überlagert digitale Daten in der physischen Umgebung des Nutzers
 

In der erweiterten Realität (AR) trägt der Nutzer ein Headset oder eine intelligente Brille sowie ein mobiles Gerät, das digitale Daten in sein Blickfeld einblendet. Das AR-System stellt eine visuelle Verbindung zwischen einem physischen Objekt und seinen dazugehörigen digitalen Daten auf zwei Arten her. Erstens werden bei AR digitale Daten über die physische Umgebung des Nutzers gelegt. Eine Person kann z. B. ein Gerät beobachten und Leistungstendenzen der Maschine, Fehlermeldungen, Bedienhinweise, Programme usw. als optische Überlagerung erhalten. Zweitens erfassen viele AR-Systeme den physischen Raum und die Objekte (z. B. den Stellplatz der Artikel oder Mengen in Behältern) sowie die durchgeführten Aktionen (z. B. das Aufnehmen eines Objekts oder die Durchführung einer Wartungsaufgabe). Beide Aspekte stellen sicher, dass das Objekt und sein digitaler Zwilling synchronisiert sind.

Bei Augmented Reality trägt der Nutzer ein Headset oder eine intelligente Brille sowie ein mobiles Gerät, das digitale Daten in sein Blickfeld einblendet

In der virtuellen Realität wird hingegen das Sichtfeld des Nutzers vollständig durch eine computergenerierte Immersion („Eintauchen“) in eine virtuelle oder digitale Welt ersetzt. Die Technologie erzeugt in der Regel eine vollständig synthetische Welt oder verwendet Kopien eines digitalen Zwillings, um immersive Simulationen für Anwendungen in den Bereichen Technik, Schulung, Kundenerfahrung und Hypothesenforschung zu ermöglichen. Die virtuelle Realität begünstigt auch die Remotearbeit oder Telepräsenz. Dabei werden immersive Displays verwendet, die Live-Videokameradaten von einem entfernten Standort übertragen. Eine weitere Anwendung ist die Multi-User Virtual Reality, die es Mitarbeitern und Gesprächspartnern trotz räumlicher Trennung ermöglicht, miteinander zu kommunizieren. Solche virtuellen Schnittstellen können in einer globalen Lieferkette oder an Arbeitsplätzen nützlich sein, an denen es zu kostspielig oder zeitaufwändig ist, alle Experten bzw. Beteiligten an einem Ort zu versammeln.

Die Tool-Entwicklung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen

Ein wichtiger Trend in der Computer- und Hightech-Branche ist die „Dequalifizierung“, die in der Automatisierung und bei KI-basierten Systemen stattfindet, wodurch immer mehr Nutzungsaspekte dieser Technologien einem breiteren Personenkreis zugänglich werden. Dies ermöglicht es Fachleuten, Automatisierung und KI zu entwickeln, die den Übergang zu softwaregestützter, in Zukunft stärker nachgefragter Arbeit erleichtern.

Eine Kategorie dieser benutzerfreundlichen Tools soll Arbeitnehmern dabei helfen, ihre eigenen robotergestützten Prozessautomatisierungssysteme zu erstellen, ohne Programmiercodes schreiben zu müssen. Der Fachmann führt eine Routineaufgabe am Computer aus, während das Tool den Ablauf der Tätigkeit aufzeichnet. Das Tool ist dann in der Lage, einen Roboterprozess zu erstellen, der diese Abläufe für zukünftige Durchgänge wiederholt.

Andere Kategorien umfassen die sogenannten Low-Code oder No-Code Entwicklungsplattformen. Diese Plattformen ermöglichen es Nicht-Programmierern, Software zu erstellen, z. B. eine Website, eine Anwendung oder Anwendungen für Mobiltelefone. Die Plattformen verwenden Grafikdesign-Tools, eine Reihe von Vorlagen und Module, damit der Nutzer Software entwickeln kann, ohne eine Programmiersprache lernen zu müssen.

Code-Entwicklungsplattformen können die Technologie des Machine Learning auf die riesige Menge an vorhandener Software anwenden, damit sie später Menschen dabei helfen können, Codes zu schreiben. Generative KI kann aus einem einfachen Text, der die Aufgaben eines Codes beschreibt, einen Code erstellen. Bei diesen Systemen können Nicht-Programmierer eine Beschreibung ihrer Vorstellungen verfassen, und die KI wird auf Grundlage dieser Beschreibung einen entsprechenden Code erstellen.

Generative KI-Systeme können das für die Softwareentwicklung erforderliche Qualifikationsniveau senken und folglich die Chancen für Programmierer und IT-Experten mindern. Gleichzeitig ergeben sich Vorteile für Nicht-Programmierer anderer Fachrichtungen, die in der Lage sein werden, selbst Produkte zu entwickeln. Im Jahr 2021 prognostizierte das Beratungsunternehmen Gartner, dass bis 2024 80 % der Technologieprodukte und -dienstleistungen von Nichttechnikern entwickelt werden. Es ist also möglich, dass die Äußerung "85 Millionen Arbeitsplätze verloren, 97 Millionen Arbeitsplätze gewonnen" (wie sich die Automatisierung im Laufe der Zeit auf die Beschäftigung auswirken wird) mehr über die Veränderungen am Arbeitsplatz als über die Frage, ob es Arbeit gibt oder nicht, aussagt.

 


 

Referenzen

 


 

Dr. Yossi Sheffi hat die Elisha Gray II-Professur für Systemtechnik am Massachusetts Institute of Technology (MIT), an dem er als Leiter des Center for Transportation and Logistics tätig ist.

 


 

Adaption von The Magic Conveyor Belt: Supply Chains, A.I., and the Future of Work, publicado por MIT CTL Media, copyright 2023.